„Die Nordkurve ist mein Wohnzimmer“

„Ich bereue diese Liebe nicht“ – es ist ein Bekenntnis zu einer nicht immer einfachen Beziehung. Und es klingt immer ein wenig nach Entschuldigung, nach Rechtfertigung. Als ob man sagen wollte: „Okay, er ist nicht hübsch und auch nicht erfolgreich, aber er ist ein guter Kerl.“

Claudia Marsching hat es oft genug erlebt, dass man ihrer Liebe mit Unverständnis begegnet. Auch mit Häme. „Das muss man einstecken“, sagt die 46-Jährige und macht dabei den Eindruck, als ob es ihre Gefühle nur noch stärker macht. Claudia Marsching ist Club-Fan mit Leib und Seele – und das schon seit 40 Jahren.

Es begann mit einer kindlichen Trotzreaktion. Claudia war noch im Grundschulalter, als der Club erstmals ihr Herz berührte. Sie lebte damals mit ihrer Familie in Fürth. Alle hielten entweder zum FC Bayern oder zum Kleeblatt; für den 1. FC Nürnberg hatte keiner etwas übrig. Das Mädchen fühlte sich herausgefordert. „Worauf alle schimpfen, das muss gut sein“, dachte Claudia, die lieber gegen den Strom schwimmen wollte. Und so fieberte sie am Samstagabend in der Sportschau mit den Nürnbergern und ließ blöde Kommentare über ihren Verein über sich ergehen.

Mit elf Jahren stieg sie an einem Samstagnachmittag zum ersten Mal in die U-Bahn und fuhr mutterseelenallein in Richtung Stadion. Sie stellte sich mitten zwischen die Fans, beobachtete das Spiel und sog die Atmosphäre in sich auf. Die vielen Fahnen, die Gesänge, das Gebrüll – die Gymnasiastin war fasziniert von dieser rauen Welt, die für Außenstehende oft bedrohlich wirkt. Doch das Mädchen fand hier eine Heimat, fand Freunde. „Ich hatte nie Angst“, erinnert sie sich heute. Aber sie hatte auch das Glück, nie in eine brenzlige Situation hineingeraten zu sein. Im und ums Stadion fühlte sie sich immer sicher. Mit dem Club-Trikot und der Fan-Kutte durch Fürth zu spazieren war schlimmer und ungemütlicher, als zwischen Gleichgesinnten im Block zu stehen.

„FC Bayern ist langweilig“

Claudia Marsching kann sich heute nicht mehr daran erinnern, gegen wen der Club damals spielte, als sie das erste Mal im Stadion stand. Die Saison 1978/79 ist auch ansonsten keine, an die man besonders gern zurückdenkt. Der Club stieg als Tabellenvorletzter ab. Claudias Liebe zum Verein war da schon stark genug, um nicht erschüttert zu werden. Und auch später haben hohe Niederlagen gegen die Bayern, den Hamburger SV oder Werder Bremen nichts an ihren Gefühlen ändern können. Liebe und Leiden gehören beim Club immer ein bisschen mehr zusammen als anderswo. „Fan vom FC Bayern zu sein, ist einfach – und langweilig“, sagt sie. Wer aber zum Club hält, muss auch bereit sein, durch schwere Zeiten zu gehen.


Seit Claudia Marsching zum Club geht, hat es überwiegend schwere Zeiten gegeben. Die letzte Meisterschaft fiel in ihr Geburtsjahr. Seither ging es häufiger ab- als aufwärts. Umso heller strahlen da die Erfolge. Vom Pokalsieg 2007 und dem knappen Ausscheiden im Uefa-Cup gegen Benfica Lissabon in der darauffolgenden Saison muss die Fan-Seele lange zehren.

Es ist wie immer bei einer großen Liebe: „Ich habe von Anfang an eine Verbundenheit gefühlt“, sagt sie. Diese Verbundenheit zeigt sie gerne. Im Vorgarten ihres Hauses in Kirchehrenbach steht ein weithin sichtbarer Fahnenmast mit rot-schwarzer FCN-Flagge, das Haus ist voll von Fanartikeln, die sie über die Jahre zusammengetragen hat: Toaster, Tablett, Geschirr, Stofftiere . . . – das kreisrunde Logo ist in jedem Winkel des Hauses zu finden.


Und auch an ihr selbst. Sie trägt bevorzugt Freizeitkleidung mit FCN-Signet. Um den Hals hat sie eine Kette mit gleich zwei FCN-Anhängern und einem kleinen roten Herzchen. Selbst die Füße stecken in Socken, auf denen das Logo prangt. Vor ein paar Jahren ließ sie sich ein Tattoo auf den rechten Oberarm stechen. Das Herz mit dem Schriftband „1. FC Nürnberg“ hat sie mit dem Tätowierer gemeinsam entwickelt.

Ehrenamtlich engagiert

Inzwischen ist Claudia Marsching über die Rolle des normalen Fans, der sein Team auch zu sämtlichen Auswärtsspielen begleitet, hinausgewachsen. Der Club bestimmt noch mehr ihr Leben und ihren Tagesablauf, seit sie vor drei Jahren zur Vorsitzenden des Fanverbands gewählt wurde, dem Dachverband, in dem rund 250 Fanclubs zusammengeschlossen sind. „85 Prozent meiner Zeit investiere ich in den Club“, sagt sie. Sie organisiert Auswärtsfahrten, pflegt die Homepage des Fanverbands und verlinkt noch um Mitternacht die aktuellen Zeitungsberichte über den Zweitligisten, damit sich der Fan am nächsten Morgen gleich informieren kann – ein Fulltimejob auf ehrenamtlicher Basis. In ihrem erlernten Beruf Krankenschwester arbeitet sie schon lange nicht mehr.


Die exponierte Position im Verband bringt Vorteile. Claudia Marsching kommt den Spielern viel näher als der durchschnittliche Stadionbesucher. Bei den zahllosen Veranstaltungen der Fanbetreuung, zu denen auch regelmäßig Sportler hinzukommen, kommt sie mit Spielern und Offiziellen ins Gespräch. Über die Jahre entsteht eine Vertrautheit, so dass man, wie etwa mit Dieter Eckstein, auch mal über Privates oder die Familie plaudert.

Club-Gene vererbt

Früher, in ihrer Anfangszeit, hat sie auch noch ab und zu beim Training vorbeigeschaut. Als dann die Kinder auf die Welt kamen – vor 20 und vor 22 Jahren – musste der Verein auf ihre ungeteilte Aufmerksamkeit vorübergehend verzichten. Die Kinder wurden größer und spielten bald selber Fußball. Die Mutter stand dann selber am Spielfeldrand und trainierte eine Jugendmannschaft des TSV Kirchehrenbach. Hier lernte sie auch ihren zweiten Mann Ferdl kennen. Er ist ebenfalls Fan und bei allen Heim- und Auswärtsspielen des 1. FCN dabei. Sohn Patrick begleitet seine Mutter meist ins Stadion; Tochter Tamara kommt seltener mit, weil sich der Spielkalender nicht immer mit ihrem Dienstplan als Kinderkrankenschwester unter einen Hut bringen lässt. Der 1. FC Nürnberg ist „eine Familienleidenschaft“, sagt Claudia Marsching. Sie ist ein bisschen stolz, dass sie ihren beiden Kindern etwas von der großen Liebe zum Club hat mitgeben können.

Bis heute steht sie in der Nordkurve, im 5er Block. „Das ist mein Wohnzimmer.“ Wenn sich vor dem Spiel das ganze Stadion erhebt und „Die Legende lebt“ anstimmt, dann läuft ihr ein Schauer über den Rücken, und sie bekommt Gänsehaut. Und dann weiß sie: „Hier gehöre ich hin.“

GEORG KLIETZ